Selbstermächtigung der Pflege
Zurück ins Pandemie-Vakuum: Willkommen Opferkultur?
Die vierte Corona-Welle türmt sich auf und sorgt in vielen Bereichen für Verzug und Stillstand. Wieder einmal scheint nichts mehr sicher, viele Firmen bangen erneut um ihre Existenz. Und in Krankenhäusern droht ein weiterer Schub von Pflegekräften, pandemiebedingt, das Gesundheitssystem zu verlassen – vermutlich für immer. Sorgen, Ängste und Frust sind menschlich und verständlich, zumal die Pandemie zu Tage fördert, was schon lange im Argen liegt. Während manche im Schutzmantel der Passivität in Lethargie und einem Opferdenken verfallen, formulieren andere lautstark ihre Forderungen und Anklagen an Gesellschaft, Politik und Arbeitgeber. Wer keine starke Lobby hat, muss für sich selbst einstehen. Nur die Pflege selbst weiß, wie sich das System verändern müsste, damit junge Menschen sich wieder für den Beruf begeistern können, aktive Pflegekräfte erhalten bleiben und Ausgeschiedene bereit wären, zurückzukommen. Raus aus dem Vakuum, rein in die Selbstermächtigung: Dabei können die 7 Säulen der Resilienz helfen.
- Josephine Ruppert
- Josephine Ruppert
Zurück in die Leere
Als hätten wir nichts gelernt: Die vierte Corona-Welle türmt sich auf und sorgt in vielen Bereichen für Verzug und Stillstand. Diese Fragilität schafft ein Vakuum, das nur schwer zu ertragen ist. Wieder einmal scheint nichts mehr sicher. In vielen Wirtschaftszweigen fehlen essentielle Materialien und Baustoffe, so dass zum Beispiel längst bestellte Autos oder Häuser nicht gebaut oder geliefert werden können. Nicht nur Autohändler und Bauträger klagen, denn viele Firmen bangen derzeit um ihre Existenz. Kinder, Jugendliche und alte Menschen vereinsamen. Weder Schul- noch Restaurantbesuche sind selbstverständlich, noch das gemeinsame Weihnachtsfest oder, dass das bestellte Päckchen tatsächlich geliefert wird. Inmitten dieser lichtlosen Stimmung verlieren auch immer mehr Kliniken, geschweige denn das medizinische Personal, ihre Strahlkraft.
Schrei nach Aufmerksamkeit: Wer pflegt die Pflege?
In Krankenhäusern werden Gesprächstermine abgesagt und geplante OPs wiederholt auf eine noch unbekannte Zukunft verschoben. Viele Menschen versinken in Trauer, Antriebs- und Perspektivlosigkeit. Ein weiterer Schub von Pflegekräften droht, pandemiebedingt, die Krankenhäuser zu verlassen – vermutlich für immer. Resignation scheint zur chronischen Grundhaltung zu werden. Dies ist menschlich und verständlich, weil die Pandemie zu Tage fördert, was schon lange im Argen liegt. Sie liefert die letzten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen bringen.
Alles in allem scheint die Zukunft trist, geradezu beängstigend. Eine, die diese Sichtweise fördert, ist Franziska Böhler, die das Buch „I am a Nurse: Warum ich meinen Job als Krankenschwester liebe – trotz allem“ geschrieben hat. Sie hat eine Botschaft, mit der sie durchs TV tourt und regelmäßig von überregionalen Zeitungen interviewt und zitiert wird:
„Sie werden alleine sterben.“
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr InformationenFranziska Böhler hat als Pflegekraft lange Zeit auf der Intensivstation gearbeitet, bevor sie in die Anästhesie wechselte. Auf Instagram hat sie 285.000 Follower*innen. | Quelle: ©VOX, YouTube
Viele Berufe verdienen mehr Anerkennung
Mich stimmt dieser Beitrag von Franziska Böhler nachdenklich. Es ist ein Anfang, dass eine Pflegekraft ihre Stimme erhebt und ihre Reichweite nutzt, um auf Missstände, Personalmangel und Unterbezahlung aufmerksam zu machen. Ihr gelingt es, Angst und Betroffenheit in der Gesellschaft zu schüren. Sie spielt mit Todesmotiven und weiß, die Urängste von Menschen zu triggern. Doch reicht das? Bei allen lobenswerten Absichten – denn ihre Botschaft ist im Kern richtig und wichtig –, ist es leicht, offensichtliche Schieflagen anzuprangern und dafür – wie sollte es auch anders sein – Applaus und Zustimmung zu ernten. Es ist leicht, auf Politik und Klinikchefs zu schimpfen, Verantwortung abzugeben und sich selbst in der Pflegerolle klein zu machen oder in der Opferposition zu sehen.
In einem Punkt dürften sich wohl alle einig sein: Pflegekräfte sollten mehr Geld verdienen und mehr Anerkennung bekommen. Gleichzeitig sei ein Blick in andere Branchen erlaubt, die gleichermaßen mehr Geld und mehr Anerkennung verdient hätten. Denken Sie an Köch*innen, für die der gesellschaftliche Ausschluss Normalität ist, da sie in der Regel arbeiten müssen, während alle Freunde und Familienmitglieder ihren Feierabend genießen. Das durchschnittliche Jahreseinkommen von Köchen liegt zwischen 21.200 EUR bis 31.250 EUR. Die Einstiegsgehälter liegen zwischen 1.500 EUR und 2.000 EUR brutto. Regelmäßiger Stress zu Stoßzeiten ist selbstverständlich und die Verantwortung hinsichtlich Hygiene und Sicherheit ist in Gastronomie-Küchen groß.
Leidenschaft zum Beruf hält in vielen Branchen das System am Laufen
Anerkennung für Köch*innen? Fehlanzeige! Diese ist wenigen Stars vorbehalten, die es als TV-Prominenz geschafft haben, Ruhm und Ehre zu erlangen. Doch selbst diese kämpfen hart und müssen ihre Restaurants häufig aus wirtschaftlichen Gründen wieder schließen. Anerkennung und Respekt gebührt an dieser Stelle gleichermaßen auch allen Taxifahrer*innen, allen LKW-Fahrer*innen, allen Versandarbeiter*innen, allen Kindergärtner*innen, allen Müllentsorger*innen und allen Kellner*innen. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Perspektivlosigkeit und Ohnmachts-Gefühl verleiten zu Opferrolle
Kennen Sie den sekundären Krankheitsgewinn? Er besagt, dass eine Krankheit nicht nur Nachteile, sondern auch äußere Vorteile mit sich bringt, wie zum Beispiel erhöhte Aufmerksamkeit, Schonung und Beachtung. Diese äußeren Vorteile können dazu führen, dass die Krankheit unbewusst als Zustand gepflegt wird, auch wenn man sich eigentlich Gesundheit wünscht.
Vergleichbar dazu gibt es auch einen sekundären Opfergewinn. Niemand möchte bewusst Opfer sein, dennoch gewährt die Rolle viele äußere Vorteile wie Trost, Mitleid und Zuspruch zu bekommen, anderen die Verantwortung und die Schuld zu geben, passiv zu bleiben und nichts falsch zu machen.
Wer hingegen bereit ist, die Opferrolle zu verlassen, verzichtet auf diese Vorteile. Er macht Fehler, macht sich angreifbar, investiert Zeit, Kraft und Energie und riskiert zu scheitern. Dies ist unbequem und riskant.
Doch die Bereitschaft, unbequeme Wege und Risiken auf sich zu nehmen, ist gerade in Zeiten wie diesen mehr denn je gefordert. Dies würde ich mir von starken Persönlichkeiten wie Franziska Böhler wünschen, denn es genügt erfahrungsgemäß leider nicht, lediglich Appelle wie Pfeile auf die Gesellschaft und die Politik zu schießen. Vermeintlich mächtige Autoritäten von außen sollen es richten, doch was ist mit der Selbstermächtigung der Pflege? 285.000 Follower verpflichten.
Eigene Handlungsmacht nutzen
- Wie wäre es, wenn 285.000 Menschen ihre Macht nutzen, um Vorschläge auszuarbeiten, wie die Pflege sich umstrukturieren kann, um wieder als langfristiger Arbeitsplatz attraktiv und interessant zu werden?
- Jenseits von mehr Geld: Wie soll Pflege 2022, 2025 und 2030 aus Sicht der Pflege aussehen? Wie kann sie besser funktionieren als heute?
- Geht es in Richtig Qualifizierung oder Akademisierung, Verantwortung oder Mitbestimmung?
- Was müsste passieren, damit resignierte Pflegekräfte in die Krankenhäuser zurückkehren?
- Was wäre erforderlich, damit aktive Pflegekräfte nicht das Handtuch werfen oder bleiben?
Lösungsverantwortung outsourcen ist bequem. Doch Geld allein wird nicht das Wundermittel sein, denn dazu ist die Situation zu komplex. Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht zeigt auf, dass der Mangel an Pflegekräften nicht in der Dramatik existieren müsste, wie er sich zeigt. Sie sagt, dass es 300.000 ausgebildete Pflegekräfte gibt, die nicht mehr im Krankenhaus arbeiten. Wie müsste sich also das System verändern, damit diese 300.000 Fachkräfte bereit wären, wieder zurückzukehren? Wie sehen seitens der Pflege machbare Wünsche und Vorschläge aus? Wer diese unbequemen Fragen stellt, stößt auf ein Vakuum an Resilienz.
Wie Resilienz helfen kann, die Pflege wieder von innen heraus zu heilen
Was ist persönliche Resilienz?
Persönliche Resilienz beschreibt die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigungen zu meistern und die innere Stärke zu kultivieren. Dabei handelt es sich um einen Prozess, immer wieder neu auf Veränderungen durch ein Anpassen des eigenen Verhaltens zu reagieren. Dabei lässt Resilienz für Opferrollen keinen Raum und baut stattdessen auf 7 Säulen.
1. Selbstwirksamkeit und Optimismus
Sie sind sich der eigenen Stärken bewusst und wissen, dass Sie Probleme und Krisen meistern können, weil diese vorübergehend sind. Sie besitzen die Fähigkeit, an einen guten Verlauf der Dinge zu glauben und wissen, dass Sie die Kraft haben, Ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen.
2. Akzeptanz für sich und die Situation
Sie akzeptieren Situationen, die nicht mehr zu ändern sind. Deshalb hadern Sie auch nicht mit der Vergangenheit, sondern lassen sie ruhen und versöhnen sich mit ihr. Gleichzeitig haben Sie den Mut, der Realität ins Auge zu sehen und sie ganzheitlich zu begreifen. Es geht darum, Schwierigkeiten nicht auszublenden, aber auch das Gute im Schlechten zu entdecken.
3. Lösungsorientierung
Resilienz entzieht jeglichem Jammern den Nährboden. Es bedeutet, dass Sie klare Ziele formulieren und Wege zu finden, wie diese sich realisieren lassen. Dazu gehören auch Methoden der Stressbewältigung und der Entspannung, um reflektiert zu bleiben, die tatsächliche Größe eines Problems richtig einzuschätzen und geeignete Lösungswege finden zu können.
4. Verlassen der Opferrolle
Sie verharren nicht in der Passivität. Stattdessen sind Sie bereit, die Komfortzone zu verlassen, Risiken einzugehen, Fehler zu machen, eigene Einstellungen zu verändern, die eigene Person aus anderen Perspektiven zu sehen und neue Handlungsweisen auszuprobieren.
5. Übernahme von Verantwortung
Sie zeigen Initiative und setzen sich aktiv für die Erreichung der eigenen Ziele ein. Dazu setzen Sie sich ent-emotionalisiert und nüchtern mit der Situation auseinander. Es geht weniger darum, sich vor der Verantwortung zu drücken, als zu viel zu übernehmen. Es geht darum, genau den Anteil zu übernehmen, der Ihnen zukommt.
6. Gestalten von Beziehungen
Die Zeiten der Einzelkämpfer sind vorbei. Sie wissen, wie wichtig es ist, in Gemeinschaften eingebunden zu sein. Gemeinsam erlangen Sie Schwarmintelligenz, Co-Kreation, Synergien und Power, die Ihnen alleine niemals zugänglich wären. Besonders in schwierigen Zeiten sind Netzwerke und Gemeinschaften sehr unterstützend und wertvoll.
7. Planung der Zukunft
Sie bereiten sich aktiv und bewusst auf die Zukunft vor. Resilienz bedeutet, absehbaren Schwierigkeiten vorzubeugen und sich rechtzeitig Alternativen zur jetzigen Situation zu überlegen und Visionen zu entwickeln, wie sie künftig leben und arbeiten wollen, so dass es mit Ihrer Persönlichkeit und Ihren Lebensumständen vereinbar ist.
Herzenssache Pflege: Sie sind Ihre eigene Lobby
Sie und wir brauchen einen Ort, an dem wir genesen können. Wir benötigen die Sicherheit, dass kompetente, verlässliche Pflegekräfte uns umsorgen, wenn wir es selbst nicht mehr können.
Es stimmt: Wir alle werden einmal sterben – und hoffentlich nicht allein.
Um eine gute Versorgung zu sichern, sind Politik, Krankenhäuser und die Gesellschaft unumstritten in der Pflicht. Gleichzeitig möchten wir mit diesem Artikel allen Pflege- und Funktionskräften Mut machen, im Sinne einer gesunden Resilienz für sich selbst einzustehen und die erwünschte Zukunft mitzugestalten. Eine Wende wird nicht ohne Sie funktionieren – sondern nur mit Ihnen. Sie wissen am besten, warum Sie das System verlassen haben oder verlassen wollen. Sie wissen, was jenseits von Geld noch erforderlich wäre, um Ihren Arbeitsplatz für sich selbst als auch für junge Nachwuchskräfte wieder attraktiv zu gestalten. Überlassen Sie die Reform der Pflege nicht den fachfremden Theoretikern, denn die Pflege, das sind Sie.
Weitere Beiträge zum Thema:
„Man kommt wegen der Leidenschaft – und geht wegen der Bedingungen“
In der Reihe „JR-Porträt“ berichten Klinik-Mitarbeiter:innen aus den verschiedensten OP-, Anästhesie- und Intensivabteilungen über ihre Job-Motivation, Arbeitsbedingungen, den Wechsel in die Zeitarbeit und ihre Erfahrungen im Personalleasing. Dieses Mal im Interview: Benjamin Schmidt, examinierter Gesundheits- und Krankenpfleger im Operationsdienst und Hybrid-OP-Techniker.
Ausgebrannt? Wenn Dauer-Krisen zu Krankmachern werden
Selbst bei gefestigten Persönlichkeiten wird derzeit schwer an der psychischen Stabilität gerüttelt. Mit leeren Tanks geht es ohne Verschnaufpause direkt in die nächste Dauer-Krise – Burnout und Depression können die Folge sein. Was können wir tun, um irgendwie doch weiterzumachen, ohne allmählich auszubrennen?
Ist Zeitarbeit schuld am Pflegemangel?
Die anderen sind immer Schuld. In diesem Fall: Die Zeitarbeit. Die Hessische Krankenhausgesellschaft klagt an, diese sei systemkritisch und man müsse diese eindämmen. So einfach ist das. Oder doch nicht?
Hinweis zur Sprache: Mit unseren Inhalten sprechen wir alle Menschen (m/w/d) an. Zur besseren Lesbarkeit verzichten wir stellenweise auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen und wechseln diese – sofern möglich und sinnvoll – ab. Danke für Ihr Verständnis.